Das Porträt

 FMG-INFORMATION 116, August 2016

 

Schon oft waren wir auf den FMG-Wallfahrten, wenn sie uns über den Brenner nach Italien führten, in Tulfes ob dem Inntal südlich von Hall in Tirol, um dort die erste Wallfahrtsmesse zu feiern. Auf dem Friedhof gibt es immer noch das Grab der Reinheitsmärtyrin Gertraud Angerer. Am 24. März 2016 jährte sich der Tag ihres Todes zum 200. Mal. Das ist Anlass, in der Rubrik „Das Porträt“ an ihr Leben und Sterben zu erinnern.

Quellen: Die Darstellung von +Pfr. Vinzenz Ruef in der Broschüre „Um Kranz und Krone“(6. Auflage 1979), S. 7-48, ferner Ferdinand von Scala: „Gertraud Angerer von Tulfes, die Märtyrerin der Keuschheit: ein kurzes Lebensbild, dem christlichen Volke, besonders aber den lieben Bewohnern der Gemeinden Tulfes und Rinn“ (http:// digital.tessmann.it/tessmannDigital/Buch/18957//listViewMode-on-targetMediaPage-12.html) und der entsprechende Absatz der Chronik der Gemeinde Tulfes auf deren Internetseite (www. tulfes.tirol.gv.at/system/web/zusatzseite.aspx?detailonr=217261988; vgl. auch https:// de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_denkmalgesch%C3%BCtzten_Objekte_in_Tulfes). Einige geschichtliche Details zum Tiroler Freiheitskampf und den Örtlichkeiten sind Wikipedia entnommen.

 

 

MÄRTYRIN DER REINHEIT

Gertraud Angerer

 

* 13. Februar 1798 Tulfes       + 24. März 1816 Tulfes, Tirol

 

Die Eltern

Gertraud Angerer war das zweite von zehn Kindern des Ehepaars Andreas Angerer und Maria, geborene Speckbacher. Am 27. November 1792 waren die Eltern in der Pfarrkirche der Braut, St. Michael in Gnadenwald, getraut worden. Dieser Ort liegt auf der Nordseite des Inntals, etwa 15 km von Tulfes entfernt, über Absam hinaus (das Dorf, in dem 1797 in einer Fensterscheibe ein Marienbild sichtbar wurde, das noch heute in der dortigen Wallfahrtsbasilika zu sehen ist).

 

Exkurs: Der Tiroler Freiheitskampf

Die Mutter war die Schwester eines der Tiroler Freiheitskämpfer: Josef Speckbacher. Da er der Onkel der Reinheitsmärtyrin war und sie als Kind die Jahre des Aufstandes miterlebte, ist dies hier zu erwähnen. Er war 1767 in Unterspeck im Gnadenwald geboren und hatte 1794 in den Hof seiner Frau (Schmirnerhof) in Rinn-Judenstein (westlich von Tulfes) eingeheiratet. Das vielgeliebte Vaterland Tirol war in schwerer Bedrängnis, so hielt es den Schmirnerhofbauern nicht mehr zuhause. Sein Führungstalent und taktisches Geschick überragte den etwas schwerfälligeren Passeier Andreas Hofer. Im Jahr 1797 trat er hervor in den blutigen Gefechten bei Spinges (Südtirol) und 1800 bei einem Streifzug gegen die Franzosen, ebenso 1805 bei der Verteidigung des Grenzpasses bei Scharnitz. 1809 war er einer der bedeutendsten Führer bei der Vorbereitung der Erhebung und trug entscheidend zu den Siegen am Berg Isel bei Innsbruck bei.

Zum Verständnis: Der bayerische Kurfürst, im Krieg von 1800 noch mit Österreich gegen Frankreich verbündet, schloss dann ein Bündnis mit Napoleon Bonaparte. 1805 marschierten die Franzosen unter Marschall Ney in Innsbruck ein. Österreich musste, schwer geschlagen, im Frieden von Preßburg die Grafschaft Tirol an das mit Napoleon verbündete Bayern abtreten. Der inzwischen zum König erhobene Max I. Joseph suchte zwar, durch einige vertrauensbildende Maßnahmen die Sympathie der Tiroler zu erringen. So versprach er die Unantastbarkeit der Landesverfassung und garantierte, dass Tiroler nicht zu fremdem Militärdienst eingezogen würden. Doch besonders der leitende bayerische Minister Graf Montgelas, ein Aufklärer und Feind des christlichen Glaubens, ging sehr rigide vor. Als er begann, auch in kirchliche Angelegenheiten einzugreifen – Abschaffung von Feiertagen und Prozessionen, Verbot der Christmette 1806, Auflösung von sieben großen Klöstern, Vertreibung der Mönche, Verschleuderung kostbarer Kirchengeräte und Handschriften, Säkularisierung von altehrwürdigen Kirchen usw., da erreichte die Empörung im Volk den Höhepunkt. Mit einer neuen bayerischen Verfassung hörte am 1. Mai 1808 Tirol auf, ein zusammenhängendes Staatsgebilde zu sein; die verbrieften Landesfreiheiten wurden gebrochen. Österreich erklärte Frankreich und den Verbündeten den Krieg. Der österreichische Erzherzog Johann erklärte Tirol wieder zu österreichischem Besitz und jeden kämpfenden Tiroler als Angehörigen eines militärischen Aufgebots, nicht als Rebellen. So erhoben sich überall in Tirol bewaffnete Bauernscharen, die die unbeliebten bayerischen Beamten absetzten, da sie sich einem wortbrüchigen Landesherrn gegenüber nicht mehr zur Treue verpflichtet sahen. Die Freiheitskämpfer hatten Erfolge und Niederlagen; bei einigen Kämpfen war Andreas Hofer der Anführer, bei einigen Josef Speckbacher. Nachdem der österreichische Kaiser 1809 in einem diktierten Friedensvertrag auf Tirol verzichtet hatte, trotz gegenteiliger vorheriger Versprechungen, wurde Tirol auf Befehl Na­poleons durch bayerisch-französische Truppen besetzt. Eine letzte (4.) Schlacht am Berg Isel am 1. November 1809 endete mit einer totalen Niederlage der Tiroler. Die Besatzungsmacht verhängte ein hartes Strafgericht über das Land. Andreas Hofer wurde im Januar 1810 gefangengenommen und am 20. Februar 1810 in Mantua hingerichtet. 1823 kamen seine sterblichen Überreste in die Innsbrucker Hofkirche. Nach der Niederlage Napoleons 1814 fiel Tirol wieder an Österreich.

 

Josef Speckbacher flüchtete nach der Niederlage. Man hetzte ihn wie ein Wild; er versteckte sich auf abgelegenen Einödhöfen, über sechs Wochen lang sogar in einer Grube unter dem Boden seines eigenen Kuhstalls; vom Glockenturm des Judensteinkirchleins in der Nähe seines Hofes entkam er, als er sich am Glockenseil außen herab­ließ. Im Mai 1810 konnte er sich nach Wien durchschlagen, wurde vom Kaiser belobigt und beauftragt, geflüchtete Tiroler in Südungarn (Banat) anzusiedeln. Erst als 1814 Tirol wieder mit Österreich vereinigt war, konnte er sicher, doch gesundheitlich angeschlagen, nach Rinn bzw. Hall zurückkehren. Der Kaiser hatte ihn in Anerkennung seiner Verdienste Titel und Pension eines Majors der Tiroler Landesschützen verliehen. An einem Nierenleiden, dessen Ursachen in den Kriegszeiten lagen, starb Josef Speckbacher nach schlimmem Leiden als 52jähriger am 28. März 1820 in Hall. Dort begraben, wurden seine sterblichen Überreste 1858 feierlich exhumiert und nach Innsbruck überführt, wo er an der Seite seines Freundes und Waffengefährten Andreas Hofer in der Hofkirche ruht. In Hall ist er in einem Standbild aus Erz verewigt.

 

Die Familie Angerer

Der Hof, auf dem das 1792 getraute junge Ehepaar ein gläubiges Familienleben begann – nach einem früheren Besitzer Matthias aus diesem alten Angerer-Geschlecht beim „Heisangerer“ genannt – liegt auf der südlichen Mittelgebirgshochebene. Heute gehört der Heisangerer-Hof zu den denkmalgeschützten Objekten in der Gemeinde. Erwähnt sind die barocke Fassadenmalerei und zwei Einzelfreskos der Immaculata und der Hl. Familie, außerdem ein Votivbild (1877) von Otto Bartinger, das Gertraud Angerer auf dem Sterbebett darstellt.

Ohne sich auf die Abstammung aus altem Bauernadel (mit eigenem Wappen) viel einzubilden, ging das Paar mit maßvollem Selbstvertrauen und umso größerem GOTTvertrauen seinen Weg. Am 25. Oktober 1793 wurde als Stammhalter ein kleiner Johannes Evangelist geboren; am 13. Februar 1798 um 10 Uhr nachts folgte ein Schwesterchen, das am nächsten Tag schon der Pfarrer und Prämonstratenser-Chorherr Wilhelm Pallang auf den Namen der hl. Äbtissin Gertrud taufte. (Die Prämonstratenser von Stift Wilten in Innsbruck betreuen auch heute noch die Pfarrei Tulfes.) Das letzte der insgesamt zehn Kinder (drei starben im Kindesalter), Maria, wurde am 18. August 1809 geboren (sie starb 1892 als Pfarrhaushälterin in Tulfes). Auch die Eltern Gertrauds starben hochbetagt in Tulfes, der Vater am 14. November 1852 im 83., die Mutter am 28. Januar 1843 im 77. Lebensjahr. „Eltern und sämtliche Kinder leben im Andenken des Volkes fort als hochachtbare, fleißige und vor allem fromme Leute. Die älteste Tochter Gertraud jedoch überragt sie alle, da sie ihre GOTTES- und Tugendtreue mit dem freiwilligen Martertod bezahlt und besiegelt hat“ (V. Ruef).

 

Die Jugendzeit

Es ist nicht viel aus der Kindheit und Jugendzeit Gertrauds („‘s Geadele“) bekannt. Sie war fleißig, folgsam, kindlich-fromm. Die Mutter GOTTES – an der Nordseite des Elternhauses als siegesstarke Jungfrau mit der Sternenkrone gemalt – verehrte sie innig. Sie wurde ein natürliches, sehr schönes junges Mädchen, das Freude hatte am Anblick der himmelstürmenden Berge und an der umgebenden Natur; das tüchtig bei der Arbeit auf dem Hof mithalf. Es ist wahrscheinlich, dass sie an ein zukünftiges Leben als Bauersfrau dachte. Mit Freude wanderte sie mit ihren Angehörigen jeden Sonntag eine halbe Stunde zur reichbemalten Dorfkirche von Tulfes, um die heilige Messe mitzufeiern. So oft das nach damaliger Sitte möglich war, holte sie sich die stärkende und nährende Kraft der GOTTESkinder in hl. Beichte und hl. Kommunion. Am Sonntag vor ihrem Sterben, dem Fest ihrer Namenspatronin, soll sie zum letzten Mal den Leib des HERRN empfangen haben. Ihr Gebetbüchlein zeigt besonders bei der Passionsmesse starke Abnutzungsspuren: vom Glauben her wusste sie das Leiden als Heilsquelle.

 

Vinzenz Ruef erzählt einige eigentümliche Überlieferun­gen. So sollen sich, als sie mit einem ihrer Brüder an der späteren Stelle des Überfalls, eine Woche vorher die Bäume ohne natürlichen Wind vor ihr verneigt haben. Die Mutter soll in der Nacht vor dem Geschehen Gertraud im Blütenglanz einer Braut im Traum gesehen haben, mit einem Brautkranz von roten Rosen im Haar und einer Lilie in der Hand, im Begriff weit fortzugehen. Auch Gertraud selber soll einen ähnlichen Traum gehabt haben, wonach sie mit anderen Jungfrauen in weißem Kleid vor dem Marienaltar in der Kirche gebetet habe. Den anderen Mädchen habe die GOTTESmutter weiße Gürtel und weiße Rosen gegeben, ihr aber solche von roter Farbe geben wollen. Da habe sie um weiße gebeten, wie bei den anderen, doch Maria habe erwidert: „Rose und Gürtel von weißer Farbe hast du schon; ich will dir aber auch die rote Farbe geben.“

 

Das Reinheitsmartyrium

1816 war ein nasskaltes Hungerjahr – in vielen Ländern wirkte sich ein Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815 aus, der ungeheure Mengen an Ruß-, Staub- und Magmapartikeln in die Atmosphäre schleuderte, was zu verminderter Sonneneinstrahlung und verstärkten Niederschlägen führte. In Tirol war der Sommer 1815 extrem feucht, es herrschten Misswuchs und große Ernteausfälle.

Am Samstag, dem 23. März 1816, musste Gertraud in die Stadt Hall hinab zum Markt gehen, um landwirtschaftliche Erzeugnisse dort abzusetzen und notwendige Einkünfte zu besorgen. In dieser Notzeit, zudem nach den langen Kriegsjahren, waren die Bauern sehr auf solche Einkünfte angewiesen.

Gertraud stand frühzeitig auf und machte sich nach Morgengebet und einem kurzen Frühstücksmahl auf den Weg hinab ins Inntal. Die Mutter gab ihrer Ältesten noch den Segen mit Weihwasser. Sie wusste ja, dass in der Gegend zwischen Hall und dem Tulferberg seit einiger Zeit des Öfteren schon ein Mann zur Zeit der Morgen- und Abenddämmerung vorübergehende Frauen und Mädchen belästigt hatte. Zwei Jahre früher war ihm eine Frau mit Not entkommen, verlor aber infolge der Erschütterung ihr Kind bei einer Frühgeburt. Und noch nicht lange zurück war ein 15-jähriges Mädchen, Maria Noar vom Erlerhof auf dem Tulferberg, auf der Flucht vor diesem Mann zu Boden gestürzt und hatte sich ein schweres Unterleibsleiden zugezogen, dem es ein halbes Jahr danach, am 3. August 1816, erlag. Sie liegt nun im selben Grab wie Gertraud Angerer.

 

Der Wüstling war ein 1782 in Hall geborener Ignaz Mader (genannt „Bugazi“). Von früh auf ein Tunichtgut, hatte er als Soldat ein liederliches, unzüchtiges Leben geführt; er soll auch desertiert sein. Nach dem Krieg wurde er als Arbeiter bei den Haller Salinen (Salzgewinnungsanlagen) angestellt. Er zeigte sich zwar fleißig, aber auch streitsüchtig, und führte, obgleich (kinderlos) verheiratet, ein unmoralisches Leben.

Die bisher Angegriffenen hatten – ob aus Furcht vor der Rache des Mannes oder aus Scham – keine Anzeige bei Gericht gemacht. Man erzählte sich zwar unter den Leuten davon, doch war man nach den vorausgegangenen Kriegsgefahren nicht schreckhaft; in die Kampfhandlungen gegen die Franzosen hatten auch einige Mädchen mutig eingegriffen. Man konnte bei den häufigen Gängen in die Stadt nicht jedes Mal eine Begleitung mitgeben und vertraute, dass sich die kräftige, unerschrockene Gertraud im Fall einer Gefahr wehren und retten könne.

Der Abstieg des 18jährigen Mädchens vom Tulferberg nach Hall am frühen Morgen verlief ohne Vorkommnisse; nach einer Stunde war Gertraud glücklich in der Stadt und suchte, ihre Waren baldmöglichst an den Mann zu bringen.

Zu ihrem Schrecken erfuhr sie, dass der Unhold an diesem Morgen wieder ein Mädchen angegriffen habe, das sich ihm entziehen und ihn den Rain hinunterstoßen konnte. Vielleicht bewegte diese Nachricht Gertraud, vor ihrem Rückweg in der Pfarrkirche von Hall zu beten und um Treue zu GOTT und Seinem Gebot zu bitten – besonders vor einem Gnadenaltar der GOTTESmutter in der sog. Waldaufschen Kapelle im linken Seitenschiff.

Kurz vor 9 Uhr am Vormittag brach Gertraud zum Heimweg an. Eine weite Wegstrecke hatte sie ein anderes Bauernmädchen aus Tulfes zur Begleitung. Sie kamen unter anderem an der Kapelle des hl. Franz Borgias vorbei. An einer Biegung, beim sog. Stampfl, zweigte dann von der Straße nach Tulfes der Fußweg zum Heisangererhof durch den Wald ab. Die Weggefährtinnen mussten sich trennen; der größte Teil des Wegs war schon zurückgelegt. Gertraud ging steil aufwärts allein weiter, eine halbe Stunde vom Elternhaus entfernt. Sie kam an der Stelle vorbei, wo Spuren im Schnee zeigten, wie Bugazi am Morgen von einem anderen Mädchen zu Boden gestoßen worden war. Bald darauf – die Tulfer Kirchenuhr schlug zehn – trat Gertraud plötzlich der unheimliche Mann entgegen, eine lange Holzaxt tragend. Er hatte ihre Spur im Schnee vom Morgen ja sehen können und wohl auf sie gewartet.

Das Mädchen wies die Schmeichelworte des Verführers zurück: „Nein! Das ist schlecht und Sünde! Lass mich doch geh’n! Die Mutter wartet längst auf mich.“ (Der Mörder sagte dies selbst bei seinem Prozess aus.) Er antwortete darauf mit Spott und Drohungen, und da er nichts erreichte, mit offener Gewalt. Die Glätte des Schnees und die langen Kleider behinderten sie, doch sie wehrte sich mit Kraft und Seelenstärke in einem heftigen Kampf, der mehrere Minuten dauerte. Schließlich sank sie, wohl in Folge eines heftigen Schlags der Hacke gegen die Stirn, mit einem Seufzer „JESUS, Maria, Josef“ zu Boden.

Der Verbrecher beschloss nun, damit das Mädchen, wenn es wieder zu sich käme, ihn nicht anzeigen könne, kaltblütig zu ermorden. So packte er die Hacke, die er bei sich hatte, um Holz zu stehlen, und ließ sie zweimal in das Hinterhaupt des Mädchens dringen. Dieses krümmte sich am Boden in furchtbarem Schmerz. Bugazi aber raffte noch den Geldbeutel auf, der dem Mädchen im Ringen entfallen war, und floh durch den Wald weg vom Ort seiner Untat, „von jener, die das Opfer seiner unmenschlichen Grausamkeit werden musste, weil er sie nicht zum Opfer seiner schändlichen Lüste zu machen vermochte“ (Gerichtsakten).

Blutüberströmt und bewusstlos lag Gertraud im Schnee, der die Spuren des heftigen Kampfes festhielt. Gegen 11 Uhr kam ein Mädchen von einem Hof oberhalb des Heisangerer von Hall herauf, sah das junge Mädchen am Boden hingestreckt in seinem Blut liegen, und konnte nur die schreckliche Kunde zum Heisangererhof bringen. Mutter Angerer ahnte, wer die im Wald Liegende sei, und lief barfuß und weinend dorthin (so dass sie sich stark erkältete und einige Tage später die Sterbesakramente erhielt). Auf einem, vom Ochsen gezogenen Schlitten holte man die tödlich Verletzte ins Elternhaus. Der Vater und der ältere Sohn Andreas gaben später an, dass sie an der Mordstelle deutlich aus Gertrauds Mund, wohl in einem kurzen lichten Augenblick, vernahmen, sie verzeihe ihrem Mörder. Der Vater schickte den Sohn Josef nach Hall, um Arzt und Polizei zu holen.

 

Gegen 14.30 Uhr trafen endlich Arzt und Gerichtskommission ein. Sie hatten vorher schon die Stätte des Überfalls in Augenschein genommen, wo der Schnee von Blut gerötet war und auch etwas vom ausgetretenen Gehirn lag. Bei der im Haus vorgenommenen Untersuchung fand der Arzt die sehr dichten schönen Haare mit „vielem Blut, zum Teil auch mit Gehirn besudelt und am linken Seitenwandbein zwei Wunden, die einen halben Zoll voneinander waren; die hintere eineinhalb Zoll (= 4,8 cm) lange Wunde verlängerte sich bis an das Bein, die vordere bereits 3 Zoll lange und ein halb Zoll breite Wunde (=9,6 cm lang, 1,6 cm breit) aber durch die ganze Hirnschale und harte Hirnhaut bis unmittelbar auf das Gehirn. Die letztere Wunde wurde als tödlich an- und für sich erkannt, zumal die Hirnschale ganz gespalten und ungefähr ein Löffel voll Gehirn verloren war“ (gerichtsaktenmäßiges Flugblatt). Ob trotz dieser schwersten Verletzungen noch Bewusstsein, Sprache und Gedächtnis für Augenblicke möglich waren, ist unklar. Doch als der Pfarrer des Dorfes, der Prämonstratenser Thomas Tauscher, am Nachmittag kam, um der tödlich Verletzten die hl. Ölung zu erteilen, erkannte sie ihn und dankte ihm, so schien es allen, mit einem seelenvollen Blick. Sie soll auch einmal gesagt haben: „Geh‘ weg! – O verlang nichts Böses von mir!“ Die älteste Überlieferung sagt auch, dass Gertraud – obgleich sie die Mundsperre hatte – wie durch ein Wunder doch noch die hl. Kommunion habe empfangen können. Der Pfarrer blieb, zuweilen durch seinen Kaplan abgelöst, dauernd am Sterbebett.

Nach einer schmerzlichen Nacht für die Eltern und qualvollen Nacht für die Tochter brach der Sonntag, der 24. März, an – der Tag vor der Verkündigung Mariens. Den ganzen Tag lag Gertraud stöhnend und röchelnd da, in einem 35-stündigen Todeskampf. Bei der Sonntagsmesse betete die ganze Pfarrgemeinde für sie und bekundete den ganzen Tag über ihre Teilnahme. Um 21 Uhr vollendete dann die Märtyrin der Keuschheit ihr Leiden. Wie die „kluge Jungfrau“ des Evangeliums durfte sie mit der brennenden Lampe treuer GOTTESliebe zur ewigen „Hochzeit des LAMMES“ hinübergehen – ein Bild an der Mordstelle nimmt darauf Bezug.

 

Begräbnis und Verehrung

Zum Begräbnis am 27. März strömten Menschen aus der ganzen Umgegend zusammen. Hinter dem weißen, kranzgeschmückten Sarg schritt unter den Angehörigen auch ein Offizier in Majorsuniform: der Onkel Josef Speckbacher. Das 18-jährige fromme Bauernmädchen wurde nie seliggesprochen, doch das Andenken der Märtyrin der Keuschheit und Heldin wahrer GOTTESliebe dauert fort. Man kann es erkennen daran, dass ihr Grab noch immer besteht und schön geschmückt ist. Der ursprüngliche Grabstein mit dem Familienwappen der Angerer wurde zum Schutz vor der Witterung in die Friedhofskapelle gebracht; die Exhumierung 1957 soll nicht eindeutig ergeben haben, ob die Gebeine der Märtyrin an dieser Stelle ruhen. Der heutige Grabstein trägt die Inschrift: „Hier ruhet die tugendhafte Jungfrau Gertraut Angerer. Sie starb am 24. März 1816 im 19. Jahr ihres Alters an den Wunden, die ihr am Tag vorher auf dem Heimweg von Hall die Hand eines Wüstlings schlug, weil sie lieber sterben wollte als sündigen. An ihrer Seite ruhet das 15-jährige Mädchen Maria Noarin, die an den Folgen ihrer Flucht vor demselben Mörder am 3. August 1816 verstarb.“

 

Der ehemalige Katechet Gertrauds, der Wiltener Chorherr Siard Haser, schrieb eine erste Biographie der Märtyrin, deren Drucklegung allerdings von der Zensurstelle Metternichs in Wien untersagt wurde. Ein späterer Kooperator in Tulfes, angeblich dem Trunk ergeben, suchte mit Verleumdungen die Verehrung zu verhindern, während der Abt von Wilten Gertraud in einer Predigt rühmte und einen neuen Grabstein selber einweihte. Es gab weitere Lebensbeschreibungen und dichterische Darstellungen, und im Internet findet man auch den Beleg z. B. für ein Theaterstück, das zum Gedenken an Gertraud Angerer 2006 als Freilichttheater am Angererhof aufgeführt wurde.

 

Das Schicksal des Mörders

Der Täter konnte schon sechs Stunden nach der Tat gefasst werden. Nach einer kurzen Vernehmung in Hall lagen genug Beweise vor – seine Axt, seine Schuhe, die Spuren im Schnee usw., um ihn an das für Blutverbrechen zuständige Stadt- und Landrecht zu überstellen. Nach anfänglichem Leugnen mit allerlei Lügen wurde er aber schließlich im Kreuzverhör überführt und gestand die Tat. In einem dritten Verhör gestand er auch die früher ausgeführten Überfälle. Seine Tränen werteten die Richter allerdings nicht als Zeichen der Reue, sondern der Furcht vor der Todesstrafe. Dieses Urteil wurde in zwei Instanzen einstimmig gefällt. Die Hofjustizstelle in Wien riet in einem Gutachten dem Kaiser von einer Begnadigung ab, „da vielmehr eine die Sittlichkeit und die öffentliche Sicherheit gleich gefährdende Tat dieser Art auffallend und zum erspiegelnden Beispiel für andere gestraft zu werden verdient“. Am 3. August 1816 wurde das Todesurteil durch Erhängen in Innsbruck vollstreckt. Nach der Aussage des berühmten Servitenpaters Benitius Mayr, der aus Hall stammte, ließ ihn der Mörder am Morgen vor der Hinrichtung rufen, um bei ihm eine reumütige Beichte abzulegen. Um den inneren Frieden zu bekommen, ließ er dann noch die Eltern der Ermordeten um Verzeihung bitten, die ihm gewährt wurde, und auch Maria Noar, die gerade an seinem Hinrichtungstag starb. Angeblich habe ihn eine Erscheinung der Märtyrin zur Umkehr bewegt. Pater Benizi stand ihm seelsorgerlich bis zum Sterben bei und richtete dann mahnende Worte an die Zuschauer. Die Menge betete für den Gerichteten und viele warfen ein Almosen auf das am Boden ausgebreitete Bahrtuch für Seelenmessen für den armen Sünder.

[Bildnachweis: 1. Karl von Siegl, Österr. Nationalbibliothek, Gemeinfrei; 3.Archiv Freundeskreis Maria Goretti e. V.; 2. und 4. © Freundeskreis Maria Goretti e. V.]

 

 

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