"Maria Goretti ermutigt euch!"

Ansprache von Johannes Paul II. in Le Ferriere 1991

Am 29. September 1991 besuchte Papst Johannes Paul II die kleine Ortschaft Le Ferriere in der Nähe von Nettuno südlich von Rom, wo Maria Goretti mit ihrer Familie in der "Cascina antica" (einer alten Meierei, also einem landwirtschaftlichen Anwesen) gelebt und am 5. Juli 1902 dem Versucher widerstanden hatte. Anlass des Besuchs war der Abschluss des Jubliäumsjahres der Geburt der Heiligen vor 100 Jahren - am 16.10.1890. Der Reliquienschrein war aus Nettuno hierhin gebracht worden - die ehemalige Wohnung der Familie Goretti ist eine Gedenkstätte mit einem Oratorium. Der Papst hatte davor gebetet und sich dann in das Besucherbuch eingetragen - was er als Weihbischof von Krakau schon einmal getan hatte: Am 22.11.1962, am Beginn des 2. Vatikanischen Konzils, schrieb er in Latein einen kurzen Satz zu Ehren der Patronin der "unbesiegten Keuschheit" in das Besucherbuch ein.

Die Kirche dankt dem VATER für Maria Goretti

Der Hl. Vater sprach dann zu den in Le Ferriere versammelten Gläubigen:

"Ich bin hier in eure Mitte, nach Le Ferriere di Conca im sogenannten "Pontinischen Acker", gekommen, um Maria Goretti zu verehren, das Mädchen, das fähig war, mit dem Opfer seines Lebens CHRISTUS dem HERRN ... seine rückhaltlose Treue zu beweisen. Hundert Jahre nach der Geburt dieses Mädchens bin ich als Pilger gekommen, um den Dank der Kirche an den himmlischen VATER für den heroischen Glauben dieser jungen Märtyrin zu erneuern, die Papst Pius XII. am Tag ihrer feierlichen Aufnahme unter die glorreichen Heiligen als "heilige Agnes des 20. Jahrhunderts" bezeichnete. Maria Goretti ahmte die Jungfräulichkeit der ersten christlichen Jahrhunderte nach und nahm, um ihre Jungfräulichkeit unversehrt zu bewahren, den Tod auf sich.

So wird ein Bauernmädchen zum echten Vorbild für uns: zum Vorbild christlichen Lebens und echter Heiligkeit. Eure Landsmännin - wir können sie wohl als solche bezeichnen, da sie, obwohl in Corinaldo in der Provinz Ancona geboren, hier lebte und hier ihr Opfer vollendete - hat ja, JESUS nachahmend, dem Namen des HERRN Ehre erwiesen, indem sie mit ihrem Blut für die Wunder GOTTES Zeugnis ablegte, der in den Schwachen Seine Macht offenbart und den Hilflosen die Kraft des Martyriums verleiht...

Im Gedenken an Maria Goretti gilt nun euch allen, die ihr um ihr bescheidenes, heute renoviertes und zum Ziel zahlreicher Pilgerfahrten gewordenes Heim versammelt seid, meine herzliche Aufmerksamkeit... Ich grüße... die Passionistenpatres, denen die Pfarrseelsorge in Le Ferriere und am Heiligtum von Nettuno anvertraut ist. Ich begrüße die Passionistinnen vom hl. Johannes vom Kreuz, die das Haus Maria Gorettis bewahren, das heute ein Zentrum des Gebetes und des geistlichen Lebens ist. Mit Freude habe ich erfahren, dass die Zahl der Pilger, die, aus Italien und aus dem Ausland kommend, um Maria Goretti an der Stätte ihres Martyriums zu verehren, in den letzten Jahren zugenommen hat...

Mein herzlicher Gruß gilt jedoch vor allem euch, den Bewohnern dieses Weilers und der angrenzenden Ortschaften. Die Erinnerung an dieses Mädchen, das in viel härteren Zeiten lebte, als es die heutigen sind, das die Schwierigkeiten eines armen, von der erschöpfenden und harten Feldarbeit gezeichneten, aber fest in den edlen Traditionen der Familie und in den grundlegenden menschlichen und christlichen Werten verankerten Lebens kannte, ist heute noch unter euch lebendig. Maria Gorettis Beispiel folgend, sollt auch ihr diesen Werten treu bleiben: der Achtung für das Leben, der gegenseitigen Solidarität, der Bereitschaft zur Gastfreundschaft und zur Aufnahme der Einwanderer, der Liebe zum Gesetz GOTTES und der heiligen GOTTESfurcht. Dies ist das wertvolle Erbe, das ihr von euren Vorfahren übernommen habt, die, ebenso wie die Familie Goretti, aus anderen Regionen Italiens hier eingewandert waren.

Habt stets das Zeugnis der kleinen Maria vor Augen... Als Vorbild im Martyrium hilft Maria Goretti, nachdem sie ihrem Mörder den Weg der christlichen Tugend gewiesen hat, noch heute allen, die das Evangelium mit seinen strengen, aber befreienden sittlichen Forderungen annehmen wollen. Ganz besonders ermutigt sie euch, liebe Kinder und Jugendliche; sie schenkt allen, die sich im Kampf gegen das Böse und in der Suche nach dem wahren Guten sowie im echten Verlangen nach CHRISTUS an sie wenden, neue Kraft.

Hl. Maria Goretti, du treue Märtyrin, du leuchtendes Vorbild der Alltagsheiligkeit, mit dem glorreichen Siegel des geopferten LAMMES bezeichnet, hilf allen; hilf vor allem den jungen Menschen, die deinen Heroismus bewundern und deinen Eifer im Glauben und deine Sittenreinheit nachahmen wollen."

Ein lebendiges Zeugnis für die ganze Kirche

Von Le Ferriere aus fuhr der Papst weiter in die benachbarte Stadt Latina. Auf die Begrüßung durch die Autoritäten der Stadt antwortete er u. a.:

"Diese Pilgerreise findet statt aus Anlass der Jahrhundertfeier der Geburt der "kleinen und lieben Märtyrin der Reinheit", wie Papst Pius XII. die hl. Maria Goretti genannt hat... Sie ist ein lebendiges Zeugnis für die ganzes Kirche. In dieser Zeit, die gefährlich besessen ist von so vielen Formen des praktischen Materialismus, wo sich immer wieder unerwartet Gewalttaten ereignen, die nicht einmal Kinder und das unschuldige Leben verschonen, wird "die Agnes des 20. Jahrhunderts" zu einem Signal und einer Botschaft der Hoffnung. Maria Goretti, mit ihrer Stärke, die sie in der Versuchung gezeigt hat - einer Stärke, die gewiss nicht allein aus der gebrechlichen Natur kommen konnte, sondern ein Geschenk des HL. GEISTES war -, lehrt uns, dass der menschliche Leib Achtung verdient und nicht zum Gegenstand der Wollust oder materieller Befriedigung erniedrigt werden darf. Zu Tode getroffen, sank sie - Verzeihung gewährend - hin. Die Seligpreisung der Reinheit des Herzens im Evangelium wird in Verbindung mit der Seligpreisung der Armut im Geist zur Quelle von Verzeihung und Frieden. Als Beispiel des Martyriums und als Vorbild der Versöhnung lädt das kleine Bauernmädchen, das im Buch der Heiligen eingeschrieben ist, das christliche Volk ein..., ihren Glauben und ihre Treue gegenüber dem Willen GOTTES nachzuahmen.

Frucht eines reifen, festen Glaubens

Es folgte am Nachmittag eine Begegnung mit Priestern und Ordensleuten in der Kathedrale San Marco, bei der der Papst folgende Worte sagte:

"Das Leben Maria Gorettis... ist ein beredtes Zeugnis christlicher Konsequenz und einzigartiger Heiligkeit, hervorgegangen aus einer weisen, von den Werten des Evangeliums geleiteten häuslichen Erziehung. Ihr Leben war arm und opfervoll, aber wie fruchtbar an hochherziger Hingabe an GOTT und Seine Gebote!...

In Maria Goretti ehren wir die unbesiegbare Macht der GÖTTlichen Gnade, die "den Wehrlosen die Kraft zum Martyrium schenkt", und mit JESUS können wir im Geist aufjubeln zum Lob des VATERS: "Ich preise Dich, VATER, HERR des Himmels und der Erde, weil Du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, VATER, so hat es Dir gefallen" (Mt 11,25-26).

Wie es schon in Maria von Nazareth geschah, wie es sich in so sehr vielen anderen treuen Dienerinnen und Dienern des HERRN im Lauf der Jahrhunderte erwiesen hat, so konnte auch in Maria Goretti der HEILIGE GEIST in die Tiefe wirken, weil Er ein demütiges Herz voll des Glaubens gefunden hat. Der Glaube nämlich ist es, der das Leben dieses jungen Mädchens erklärt, das, mit nur zwölf Jahren, den Tod vorzieht, statt sich der Gewalt zu beugen. Ohne den Glauben wird die Gestalt Maria Gorettis farblos oder, schlimmer, sie wird in abwertende und zweideutige Schablonen gepresst...

In Maria Goretti begegnen wir einem reifen, ganz festen Glauben, aufgrund dessen sie ihre Reinheit verteidigt in dem Wissen, ganz und gar CHRISTUS zu gehören. Sie weiß gut, dass ihr Leib ein Tempel des HL. GEISTES ist und dass, wenn sie der Versuchung nachgäbe, der Bund der Treue zum HERRN, die sie im Gebet so oft bekräftigt hat, gebrochen würde. Durch die Sünde trennt man sich ja von GOTT, unserem einzigen Gut, und entscheidet sich für die "Idole", die Götzen, die zum Tod führen; und so geht man also der Hölle, der ewigen Verdammnis, entgegen...

Liebe Brüder und Schwestern, das Beispiel dieses Mädchens, das mit zwölf Jahren die Gnade des Martyriums erhielt, möge stets vor euch und eurem apostolischen Einsatz stehen. Seid wie sie Menschen tiefen Glaubens und vollkommener Hingabe an GOTT, der euch berufen hat, Heilige und unerschrockene Boten des Evangeliums zu sein. CHRISTUS braucht eure volle Verfügbarkeit, um in euch zu wirken und um durch den pastoralen Dienst, den Er euch anvertraut hat, im Herzen all derer zu wirken, die euch jeden Tag begegnen.

Gewiss sind nicht alle berufen, wie Maria Goretti das Martyrium zu erleiden, aber von jedem wird verlangt, nach der vollen Erfüllung der christlichen Tugend zu streben. Diese Askese des Geistes erfordert Stärke, beständige Aufmerksamkeit und mutigen Verzicht auf weltliche Ideale. Es handelt sich um die Aufgabe, täglich wach zu sein und auf keinen Fall davon abzulassen, sondern jeden Tag wieder anzufangen, bis zum Ende unseres irdischen Weges. Es ist ein Kampf mit sich selbst, der einem langsamen und lang währenden Martyrium ähnlich werden kann. Das Evangelium mahnt uns mit klaren und bestimmten Worten dazu: "Dem Himmelreich wird Gewalt angetan; die Gewalttätigen reißen es an sich" (Mt 11,12)...".

Sie weist den Weg zum Himmel

Papst Johannes Paul II. weihte daraufhin in Latina eine neuerrichtete Statue Maria Gorettis auf dem nach ihr benannten Platz ein:

"Ich beglückwünsche mich zu diesem Sonntag und dieser festlichen Gelegenheit. Aber ich beglückwünsche euch vor allem für die Wege der Vorsehung, der GÖTTlichen Vorsehung, die in diesem Gebiet am Beginn oder noch eher am Vorabend einer neuen Entwicklung seine kleine, jugendliche Apostolin gesandt hat... Diese junge Märtyrin hat einen Weg eröffnet, der von dieser Erde wegführt, der zum Himmelreich führt... Sie sagt uns, dass die wahre Entwicklung des Menschen, der menschlichen Person, eines jeden von uns, aus dieser Erde hinweg führt zum Himmelreich...".

Die Reinheit des Herzens und des Leibes verteidigen

Im städtischen Sportstadion feierte der Heilige Vater dann mit vielen Menschen die hl. Messe. In seiner Predigt ermutigte er dabei besonders die Jugend, Reinheit und Jungfräulichkeit zu lieben:

"...Wir feiern den Tag ihrer Geburt auf dieser Erde, haben jedoch eine andere Geburt vor Augen: die im Himmel, aufgrund ihres Martyriums... Indem sie ihr Leben "in dieser Welt" verlor, bewahrte sie es "bis ins ewige Leben" (Joh 12,25). So wurde sie zum Ruhm der Kirche und zur Quelle der Hoffnung für uns.

Über diese Hoffnung sagt der heilige Paulus...: "Das Törichte in der Welt hat GOTT erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat GOTT erwählt, um das Starke zuschanden zu machen... GOTT hat erwählt, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten, damit kein Mensch sich rühmen kann vor GOTT" (1 Kor 1,27-29). Ja, GOTT hat sie erwählt. Ja, GOTT hat sei mit Ehren bekleidet. Er hat ein einfaches Mädchen vom Land, bescheidener Herkunft, mit Ehren bekleidet. Er hat sie in der Kraft Seines GEISTES mit Ehren bekleidet. "Der irdisch gesinnte Mensch aber lässt sich nicht auf das ein, was vom GEIST GOTTES kommt. Torheit ist es für ihn, und er kann es nicht verstehen" (1 Kor 2,14). Maria Goretti hingegen hat es verstanden. Sie verstand es, mit Hilfe des GEISTES zu urteilen... Sie ist der Stimme des GEISTES, der Stimme des Gewissens nicht aus dem Weg gegangen. Sie gab nicht nach. Sie zog den Tod vor. Der HL. GEIST half ihr mit der Gabe der Stärke, zu "urteilen" und mit ihrem jugendlichen Herzen eine Entscheidung zu treffen. Als sie keine andere Möglichkeit hatte, um ihre jungfräuliche Reinheit zu verteidigen, entschied sie sich für den Tod...

... Maria Goretti ist nun für immer in der Herrlichkeit, die GOTT für die Märtyrer bereitet hat, für die Märtyrer aller Zeiten, schon seit den römischen Christenverfolgungen: für Agnes, Lucia, Agatha, Cäcilia und viele andere...

Das für ihre rückhaltlose Treue zu GOTT vergossene Blut Maria Gorettis erinnert uns daran, dass auch wir berufen sind, uns dem VATER darzubringen. Wir sind berufen, den Willen GOTTES zu erfüllen, um vor Seinem Antlitz heilig und würdig befunden zu werden. In unserer Berufung zur Heiligkeit - der Berufung aller Getauften - werden wir durch das Beispiel dieser jungen Märtyrin ermutigt.

Vor allem ihr, liebe Kinder und Jugendliche, sollt auf sie blicken. Ihr sollt ebenso wie sie imstande sein, die Reinheit des Herzens und des Leibes zu verteidigen. Setzt euch ein im Kampf gegen Übel und Sünde und vertieft eure Gemeinschaft mit dem HERRN durch das Gebet, tägliche Übung in der Abtötung und gewissenhafte Befolgung de Gebote. Fürchtet euch nicht, dem Zeitgeist zu widerstehen und die Götzen der Welt zu verwerfen, wenn es sich darum handelt, mit einem mutigen Verhalten für den keuschen und armen CHRISTUS Zeugnis abzulegen. Schätzt allzeit die Reinheit und die Jungfräulichkeit hoch.

Maria Goretti ist mit ihrem schweigenden Heroismus Lehrerin des Glaubens, der Überzeugungstreue und der echten Liebe. Sie lehrt uns, in CHRISTUS den Wert der Wahrheit neu zu entdecken, die den Menschen von der Sklaverei des Materiellen befreit, und die echte Schönheit zu verkosten und das Gute, das das Böse besiegt.

Liebe Jugendliche, hört auf die Stimme CHRISTI, der auch euch auf den schmalen Weg der Heiligkeit einlädt. Folgt den Spuren dieser eurer Landsmännin und zögert nicht, dem "LAMM, das geschlachtet wurde" (Offb 5,12) nachzufolgen. Durch Ausdauer ohne Unsicherheit und Angst werdet ihr als "Erstlingsgabe für GOTT und das LAMM" (Offb 14,4) zu den Erlösten unter den Menschen zählen und könnt viele Altersgenossen auf dem Weg der wahren Freiheit und der Liebe unterstützen.

Mit dieser Aufforderung - die in erster Linien der Jugend, aber auch der ganzen christlichen Gemeinde gilt - grüße ich euch alle... Blickt auf Maria Goretti; blickt auf den Himmel, in den sie dank der heldenhaften Befolgung der Gebote gelangt ist und wo sie nun in der Herrlichkeit der Heiligen weilt...".